Bundesverfassungsgericht ändert Rechtsprechung
Steuerzinsen verfassungswidrig

Unternehmen sowie Privatpersonen können in Bezug auf die Einkommen-, Körperschaft-, Vermögen-, Umsatz- und Gewerbesteuer für Zinszeiträume ab dem 01.01.2019 die Erstattung zu viel gezahlter Zinsen geltend machen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht entschieden.

27.08.21

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Beschluss vom 08.07.2021, Az.: 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 entschieden, dass die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen mit jährlich 6 % ab dem Jahr 2014 nach § 233a in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) verfassungswidrig ist. Unternehmen können in Bezug auf Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Vermögensteuer, Umsatzsteuer und Gewerbesteuer daher für Zinszeiträume ab dem 01.01.2019 die Erstattung zu viel gezahlter Zinsen geltend machen, in Fällen von Steuererstattungen allerdings könnten Unternehmen hingegen zur Rückzahlung zu viel erhaltener Zinsen verpflichtet sein.

§ 233a AO regelt die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen. Die Verzinsung betrifft den Zeitraum zwischen der Entstehung der Steuer und ihrer Festsetzung. Der Zinslauf beginnt erst nach einer zinsfreien Karenzzeit von grundsätzlich 15 Monaten. Betroffen sind damit lediglich diejenigen Steuerpflichtigen, deren Steuer erst nach Ablauf eines längeren Zeitraums nach der Entstehung des Steueranspruchs erstmalig festgesetzt oder geändert wird. Praktisch bedeutsam sind insoweit insbesondere (geänderte) Steuerfestsetzungen nach einer Außenprüfung. Die Zinsen betragen nach § 238 Abs. 1 AO für jeden vollen Monat des Zinslaufs 0,5 %, mithin 6 % jährlich. Von der Verzinsung erfasst werden nur die in § 233a Abs. 1 Satz 1 AO abschließend aufgezählten Steuerarten der Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Vermögensteuer, Umsatzsteuer und Gewerbesteuer.

Die Vollverzinsung wirkt sowohl zugunsten (im Fall der Steuererstattung) als auch zuungunsten (im Fall der Steuernachforderung) der Steuerpflichtigen. Die Gründe für eine späte Steuerfestsetzung und insbesondere, ob die Steuerpflichtigen oder die Behörde hieran ein Verschulden trifft, sind für die Verzinsung unerheblich.

Nach Auffassung des BVerfG ist diese Regelung nicht mehr mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, soweit der Zinsberechnung für in das Jahr 2014 fallende Verzinsungszeiträume ein Zinssatz von monatlich 0,5 % zugrunde gelegt wird. Denn nach geltendem Recht werden Steuerpflichtige, deren Steuer erst nach Ablauf der Karenzzeit festgesetzt wird, gegenüber Steuerpflichtigen, deren Steuer innerhalb der Karenzzeit festgesetzt wird, ungleich behandelt. Nur erstere sind zinszahlungspflichtig. Das BVErfG hat daher konkret folgendes enschieden:

  • Für Verzinsungszeiträume vom 01.01.2014 bis zum 31.12.2018 gilt § 233a Abs. 1 S. 1 AO fort, ohne dass der Gesetzgeber verpflichtet wäre, auch für diesen Zeitraum rückwirkend eine verfassungsgemäße Regelung zu schaffen.
  • Für ab in das Jahr 2019 fallende Verzinsungszeiträume ist die Verzinsungsregelung nicht anwendbar.
  • Der Gesetzgeber ist verpflichtet, eine Neuregelung bis zum 31.07.2022 zu schaffen, die sich rückwirkend auf alle Verzinsungszeiträume ab dem Jahr 2019 erstreckt und alle noch nicht bestandskräftigen Hoheitsakte erfasst.

Wegen der unklaren Rechtslage setzten die Finanzämter die Zinsen seit Mai 2019 in sämtlichen Bescheiden nur vorläufig fest. Ihre Höhe könnte nach der Entscheidung nun nachträglich korrigiert werden. Unternehmen, die zu viel Zinsen gezahlt haben, würden dann möglicherweise Geld zurückbekommen. Umgekehrt dürfte aber auch gelten: Unternehmen, die hohe Steuererstattung in diesem Zeitraum erhalten haben, müssten möglicherweise etwas zurückzahlen.

In Bezug auf die Zinsforderungen im Zusammenhang mit der Umsatzsteuer gibt es möglicherweise noch weitergehende unionsrechtliche Bedenken. Aufgrund der Entscheidung des EuGH vom 15.09.2016 – C-518/14 „Senatex“ könnten Unternehmer weiter versuchen, mit unionsrechtlichen Argumenten grundsätzlich gegen Zinsfestsetzungen für die Vergangenheit vorzugehen.